Alltag mit Handicaphund oder Glück auf drei Pfoten
„Guck mal, Mama, der Hund hat ja nur drei Beine!“ Diesen Satz hören wir häufig, wenn wir mit unserer Hündin Flora unterwegs sind. Ich persönlich liebe die Direktheit der Kinder; sie ist mir lieber als das heimliche Getuschel von Erwachsenen. Eines steht jedenfalls fest: Mit einem Handicaphund fällt man auf 🙂
Flora stammt aus Spanien und wurde dort von Tierschützern in einem desolaten Zustand in einem verlassenen Hinterhof gefunden. Völlig abgemagert und mit abgerissener rechter Hinterpfote wurde sie in die Obhut der Tierschützer aufgenommen. Bei der tierärztlichen Untersuchung wurde entschieden, dass der nicht mehr zu rettende Teil ihres Hinterlaufs amputiert werden muss. Auf einer Pflegestelle des Tierschutzvereins wurde sie nach der OP in Deutschland liebevoll aufgepäppelt und gepflegt.
Zu diesem Zeitpunkt befanden wir uns auf der Suche nach einem passenden neuen Familienmitglied. Unsere Hündin Lola war vor gut einem Jahr verstorben, und wir wollten einer weiteren Fellnase die Chance auf ein eigenes Zuhause ermöglichen. Das neue Familienmitglied sollte im mittleren Alter, ruhig und zurückhaltend sein, damit es zu Anton und Berta, unseren bereits im Haushalt lebenden Hunden, passt.
Beim Tierschutzverein „Fellwechsel e. V.“ entdeckten wir Floras Inserat. Alles passte: Das Alter (7 Jahre), die Charakterbeschreibung und die Pflegestelle, bei der Flora untergebracht war, war auch nicht weit entfernt von uns. Natürlich fehlte Flora ein Bein, aber das war für uns kein Ausschlusskriterium.
Ehrlicherweise möchte ich an dieser Stelle erwähnen, dass wir uns zu dem Zeitpunkt nicht allzu viele Gedanken über Floras Handicap und was dies für unseren Alltag bedeuten könnte, gemacht haben.
Spätestens bei unserem ersten Kennenlernen hatte Flora unser Herz bereits erobert.
Der Verein kam im Rahmen der Vorkontrolle mit einem eigenen Handicaphund (Dreibein) zu uns nach Hause und gab uns hilfreiche Tipps für den Alltag. Uns wurde dringend zu regelmäßiger Physiotherapie geraten. Kurze Zeit später zog Flora bei uns ein.
Dieser Tag war ziemlich aufregend. Die Hunde hatten sich zwar bereits im Vorfeld auf der Pflegestelle kennengelernt, aber man weiß ja nie, ob die Rudelzusammenführung wirklich so gut klappt, wie man es sich erhofft. Alle Bedenken lösten sich jedoch in Luft auf, als die drei abends fröhlich gemeinsam durch unseren Garten flitzten.
In den ersten Tagen war es wichtig, darauf zu achten, dass z. B. der stürmische Anton lernt, das neue Familienmitglied nicht umzurennen und dass Flora übt, sich sicher auf unserem Fliesenboden zu bewegen, ohne auszurutschen. Gerade bei hektischen Bewegungen (wenn es z. B. an der Tür klingelte) hatte Flora anfangs Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Durch mehrere Teppiche haben wir versucht, ihr in jedem Raum kleine „Inseln“ zu schaffen, auf denen sie sicheren Halt findet.
Wenn wir uns die Statik des Hundes anschauen, bedeutet ein fehlendes Bein einen enormen Einschnitt in den physiologischen Bewegungsablauf. Ein normales Gangbild (Viertakt) ist mit einem amputierten Hinterlauf nicht mehr möglich. Bei der OP wurde Flora ein Teil ihres rechten Hinterbeins bis oberhalb des Kniegelenks abgenommen. Daher hüpft sie in der Vorwärtsbewegung auf dem verbleibenden linken Hinterlauf.
Bei einem gesunden Hund mit vier Pfoten wird das Hauptgewicht (60%) von den Vordergliedmaßen getragen, während der „Schub“ aus der Hinterhand kommt. Für Flora bedeutet dies, dass aufgrund ihres fehlenden Hinterlaufs die Vorhand unter noch höherer Belastung steht. Dadurch kommt es immer wieder zu Verspannungen der Schultermuskulatur. In der regelmäßigen physiotherapeutischen Behandlung liegt daher der Fokus auf der Senkung des Muskeltonus der Vorderhandmuskulatur.
Der verbleibende Hinterlauf muss zudem mehr Kraft aufbringen, um das fehlende Hinterbein zu kompensieren. Hierbei ist zu beobachten, dass Hunde mit einem fehlenden Hinterbein das verbleibende Hinterbein eher mittig unter den Körper stellen, um mehr Stabilität zu erreichen. Dies bedeutet jedoch eine unphysiologische Belastung für Bänder und Gelenke.
Das A und O, um die stark belasteten Gelenke zu entlasten, ist ein gutes Gewichtsmanagement. Daher halten wir Floras Gewicht im Auge und wiegen sie regelmäßig. Jedes Gramm, das Flora zu viel auf den Rippen hat, führt zu einem schnelleren Verschleiß der Gelenke und somit langfristig zu Schmerzen. Dem gilt es vorzubeugen.
Eine gute Möglichkeit, die Gelenkgesundheit zu unterstützen und die Bänder und Sehnen zu stärken, ist die Gabe von Futterzusätzen wie Hyaluron, MSM oder Grünlippmuschelextrakt. Zudem ist es zu empfehlen, den Hund, insbesondere bei kaltem und nassem Wetter, mit einem Regen- oder Wintermantel warmzuhalten, damit es nicht zu Verspannungen in der Rückenmuskulatur kommt. Ein orthopädisches Hundebett an einem zugfreien Ort ist ebenfalls anzuraten.
Als Flora bei uns einzog, schaffte sie anfangs keine großen Spaziergänge. Zu dem Zeitpunkt war die Operation noch nicht lange her. Die Pflegestelle hatte eine sehr gute Wundversorgung vorgenommen, sodass kaum eine Narbe zu sehen ist. Doch Flora musste nun Kondition und vor allem Muskulatur aufbauen.
Wir passten daher die Dauer und Strecken der Spaziergänge Floras Kondition an. Dabei lautete unser Motto: fördern, aber nicht überfordern. Während in den ersten Tagen maximal 15 Minuten am Stück möglich waren, lief Flora nach einigen Wochen bereits eine Stunde im flotten Tempo im Rudel mit.
Aber grundsätzlich stehen bei uns seit Floras Einzug häufigere und dafür kürzere Runden auf dem Tagesplan, anstatt zwei Stunden wandern in der Eifel 🙂
Da wir auf Letzteres, besonders im Urlaub, nicht verzichten wollten, haben wir uns einen schiebbaren Fahrradanhänger angeschafft. Flora liebt ihren „Porsche“ heiß und innig. So kann sie bei jedem Rudelausflug dabei sein und selbst bestimmen, wann es Zeit für eine Pause ist.
Allerdings stießen wir im letzten Urlaub mit dem „Porsche“ an unsere Grenzen, besonders wenn die Wege allzu steinig und unbefestigt waren. Daher steht nun ein neues Projekt auf dem Plan: der Hundewanderrucksack.
Dabei handelt es sich um einen Rucksack, in dem man den Hund auf dem Rücken trägt. Allerdings sollte man sich gut informieren, denn es gibt sehr fragwürdige Modelle auf dem Markt, in denen der Hund regelrecht reingestopft wird und nur oben rausschauen kann. Wir können den Hunderucksack von Wanderpfote empfehlen (unbezahlte Werbung). Der Rucksack ist rundum mit großen Netzeinsätzen ausgestattet, sodass der Hund rausschauen kann. Außerdem bietet er ausreichend Platz, damit der Hund Bewegungsfreiheit hat.
Wir beschäftigen uns mittlerweile auch mit dem Gedanken, einen Hunderollwagen anzuschaffen. Flora ist heute 9 Jahre alt, und über kurz oder lang werden die Spaziergänge für sie anstrengender werden. Besonders Sorgen bereitet uns auch der Gedanke, was wir tun, wenn sie sich z. B. in der Hinterpfote eine Schnittverletzung oder ähnliches zuziehen sollte. Darauf möchten wir gerne vorbereitet sein und ihr eine Möglichkeit geben, so gut wie möglich mobil zu bleiben.
Auf einer Fortbildung zur Orthopädietechnik hatte Flora die Chance, einen Hunderollwagen Probe zu fahren. Was wir bis zu diesem Zeitpunkt nicht wussten, war, dass Flora in dem Hunderollwagen „normal“ mit ihrem noch vorhandenen Hinterbein mitlaufen kann. Bis dato hatten wir nur Rollwagen gekannt, in denen gelähmte Hunde mit den Hinterläufen eingehangen werden und nur die Vorderläufe benutzen.
Der Hunderollwagen wird für uns in jedem Fall eine zukünftige Anschaffung sein, denn er gibt Flora die Stabilität, die sie im Alter brauchen wird, und gleichzeitig wird die Muskulatur des Hinterlaufs trainiert. In einigen Tierorthopädiefachgeschäften kann man Hunderollwagen zudem auch mieten. Eine tolle Möglichkeit, besonders wenn man zunächst testen möchte, ob und wie der Hund mit einem Rollwagen zurechtkommt.
Grundsätzlich soll Flora jedoch noch so viel und so lange wie möglich ohne Hilfsmittel mitlaufen. Denn vor allem ist sie eines: ein ganz normaler Hund!
Sie liebt es, in dreckige Pfützen zu springen, scharrt mit ihren drei Pfoten wie eine Weltmeisterin und wird innerhalb des Rudels als vollwertiges Mitglied betrachtet.
Bei Spaziergängen haben wir jedoch gelernt, darauf zu achten, dass andere freilaufende Hunde Flora nicht bedrängen. Gerade bei aufdringlichen Rüden zeigt Flora ganz deutlich ihre Unsicherheit und die Angst, umzufallen. Daher schirmen wir sie bei solchen Hundebegegnungen rechtzeitig ab, was ihr Sicherheit gibt.
Handicaphund und Hundesport? Das geht!
Flora ist ein Jagdhund (Bretone Épagneul) und benötigt entsprechende Auslastung. Daher waren wir auf der Suche nach einer geeigneten Hundesportart. Flora liebt Apportieren und Suchspiele, aber wir wollten gerne noch mehr mit ihr machen. Dann haben wir Treibball für uns entdeckt. Dabei handelt es sich um eine Hundesportart, bei der der Hund eine bestimmte Anzahl an Gymnastikbällen durch das Anschieben oder Anstupsen der Bälle mit der Nase in einer festgelegten Reihenfolge ins Tor manövriert. Flora stupst natürlich eher kleine Bälle, und beim Training geht es uns nicht um Geschwindigkeit. Wenn wir sehen, wie stolz sie ist, wenn sie die Bälle erfolgreich stupst, hüpft unser Hundehalterherz vor Glück 🙂
Was hat sich in unserem Leben seit Floras Einzug verändert?
Eine Freundin, der ich diesen Artikel vorab zum Lesen gegeben habe, sagte: „Schon ziemlich viel.“ Der Ansicht bin ich hingegen überhaupt nicht. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen.
Der Grund für mein, zugegebenermaßen, subjektives Empfinden ist, dass wir Flora und ihr Handicap nicht als Einschränkung empfinden. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass unsere Hündin Berta älter ist und wir mit ihr ebenfalls keine stundenlangen Wanderungen mehr unternehmen können. Außerdem haben wir uns bewusst für einen Handicaphund entschieden.
Andere Menschen, deren Hund z. B. aufgrund einer Tumorerkrankung ein Bein verliert, sind urplötzlich mit einer Situation und Kosten konfrontiert, die sie kaum stemmen können. Daher ist es mir wichtig, an dieser Stelle zu erwähnen, dass es sich bei diesem Artikel um einen reinen Erfahrungsbericht aus unserem Leben mit Flora handelt. Viele Dinge, wie Floras Zurückhaltung und Unsicherheit, sind vielleicht auch einfach ihrem Charakter und ihren bisherigen Erfahrungen geschuldet und nicht ihrem Handicap.
Eines steht jedenfalls fest: Ich habe durch Flora viel gelernt. Allen voran habe ich die Hundephysiotherapie für mich entdeckt, und das hat eine ganz neue Tür in meinem Leben geöffnet.
Aber vor allem habe ich mich seit Floras Einzug von vielen Ansichten und Vorurteilen verabschiedet.
Hätte ich vor zehn Jahren gedacht, dass ich einen Hund in einem Wagen vor mir herschiebe und es mir nicht mal peinlich ist? Eher nicht. Solche Menschen fand ich eher wunderlich und war der Meinung: „Das ist ein Hund – der muss laufen.“
Hunde mit fehlenden Beinen haben mir immer unglaublich leid getan. „Sind die wirklich glücklich?“, habe ich mich gefragt.
Natürlich sind gesunde vier Pfoten wünschenswert. Allerdings bestellt sich niemand einen dreibeinigen Hund beim Universum.
Und zur unschönen Wahrheit gehört leider auch, dass Handicaphunde (besonders aus dem Tierschutz) häufig durch menschliches Zutun (Autounfälle, Misshandlungen) ihr Handicap „erwerben“. Ich persönlich finde, dass diese Hunde die größtmögliche Unterstützung verdienen, um ein glückliches und erfülltes Leben zu führen – trotz Handicap.
Natürlich muss man jeden Fall einzeln betrachten, und Faktoren wie die Größe und das Gewicht des Hundes sowie Schmerzfreiheit spielen eine entscheidende Rolle.
Aber wie heißt es so schön? „Hunde leben im Hier und Jetzt.“ Von dieser Lebensphilosophie können wir Menschen uns meines Erachtens eine Scheibe abschneiden.
Flora zeigt mir jeden Tag, dass sie trotz ihres Handicaps ein normaler Hund ist, der auch so behandelt werden möchte.
Ich kann Flora nicht fragen, was ihre Ängste und Sorgen sind, aber wenn sie abends in ihrem Körbchen liegt und in ihren Träumen einem Hasen hinterherjagt, scheint sie doch sehr zufrieden zu sein.